Reorganisationen zwischen Aisthesis, Kunst und Medien
Interdisziplinärer Workshop
11.-12. Juli 2024, Universität Osnabrück
mit einer Keynote von Dr. Eva Backhaus und einem multimedialen Workshop mit dem Künstler:innen-Duo Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten
Der interdisziplinäre Workshop widmet sich in bildungstheoretischer Perspektive aktuellen künstlerischen Praktiken vor dem Hintergrund von Digitalisierung und einer Kultur der Digitalität (Stalder 2016) mit einem produktionsästhetischen Fokus. Künstler:innen und Wissenschaftler:innen werden zusammen in Vorträgen, entlang von Beispielen und in gemeinsamen praktischen Übungen unterschiedliche Zugänge von Künstler:innen zu ihren Themen, Materialien, Medien und Praktiken in der postdigitalen Kultur (Cramer 2014) aus verschiedenen empirischen und theoretischen Perspektiven erkunden und diskutieren.
Wir gehen dabei von einer leiblichen Grundlage menschlicher Zugänge zur Welt, zu den anderen (auch in materieller wie medientechnischer Hinsicht zu dem anderen) und zu sich selbst aus. Dementsprechend sind aus phänomenologischer wie ästhetischer Perspektive jegliche Wahrnehmungen, Empfindungen und Handlungen mit sogenannten ,digitalen‘ Medien gleichsam analog, sie sind leiblich-sinnlich fundiert. Fast jedes digitale Mediengerät, vom Smartphone über den mp3-Player, der digitalen Foto- und Videokamera bis zur VR-Brille ist ein analog-digitaler Hybrid. Denn aus materieller Perspektive können unsere menschlichen Sinne Informationen nicht in digitaler sondern nur in analoger Form von nicht-diskreten Signalen wie Schall- oder Lichtwellen wahrnehmen. Auch der Umgang mit digitaltechnologischen Dingen/Geräten, ist durch ein materiell-körperliches Kontinuum grundiert. Kurz: Wir stehen als menschliche, leiblich-sinnliche Wesen auf unterschiedlichste Weise ästhetisch (wahrnehmend, fühlend, imaginierend, denkend, handelnd, …) in Beziehung zur materiellen, postdigitalen Kultur. Dieses dingliche Umfeld partizipiert auch an der zeit-räumlichen Verankerung und Verleiblichung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, da wir uns, wie Waldenfels (2016, S. 102) argumentiert, stets in einem leiblichen Umfeld bewegen und dieses in der Bewegung mitgestalten. Das Postdigitale wäre in diesem Sinne nicht als etwas zu denken, das additiv zu einer solchen Verleiblichung käme, sondern vielmehr als eine grundsätzliche Verschränkung, die sich auch durch ihre Eigendynamik kennzeichnet. Zu fragen ist daher, wie diese postdigitalen Wirklichkeiten in ihrer „Agentialität“ (Barad 2012) Rechnung getragen und in ihrer konstruktiven „Verschränkungen“ (im Original entanglements; Barad 2015) erfasst werden können, in denen und durch die Entitäten, Subjekte, Raum und Zeit sich jeweils prozesshaft, temporär und lokal in Kraft setzen.
Zugänge verstehen wir in ästhetischer Perspektive als Prozesse, in denen Personen der Welt begegnen, von ihr affiziert werden, sie erfahren und so die Welt für sich als sinnvoll strukturierte, wahrnehmbare, denkbare und bewertbare Welt erschließen. Sie lassen sich daher auch als Ergebnisse von ästhetischer Arbeit verstehen (vgl. Noë 2013, S. 106), die von bildungstheoretischer Relevanz sind. Zugänge sind nach Noë durch ein komplexes Zusammenwirken von sensorimotor skills, conceptual techniques and affective orientations organisiert (vgl. Noë 2023, S. 98f). Sensorimotor skills beschreibt Noë als das je individuelle Verständnis davon, wie die eigenen Bewegungen das Sensorische, Wahrnehmungen produzieren und diese anpassen. Während die konzeptuellen Techniken das praktische und intellektuelle Wissen im Umgang mit den Dingen beschreiben, weist die affektive Orientierung darauf hin, dass wir auf Situationen, Begegnungen und Dinge affektiv ausgerichtet (Noë, 2023, S. 98) und immer bereits in einem relationalen Verhältnis sind. Ein Zugang als ästhetische Arbeit lässt sich dementsprechend mit Noë nur vor dem Hintergrund von habits und Dispositionen (Bourdieu, 1979, Audehm, 2017) denken. In diesem Sinne kann ein Zugang gelingen oder versagen und als fragiles, performatives Ereignis verstanden werden.
Vor diesem theoretischen Hintergrund interessiert uns, wie sich Künstler:innen in ihren Arbeitsprozessen Zugänge zu Themen, Materialien und Medien im Kontext einer postdigitalen Kultur erarbeiten und welche unterschiedlichen Praktiken und Strategien sich dabei zeigen, bzw. empirisch rekonstruieren und beschreiben lassen. Wir gehen davon aus, dass die Transformationsdynamiken postdigitaler Kulturen neue Zugänge, neue Arbeitsweisen und Praktiken von Künstler:innen schon hervorbrachten und immer wieder herausfordern. Dabei entwickeln sich nicht zwangsläufig radikal neue Zugänge, sondern vielmehr zeigen sich einige Aspekte in den Zugängen, den künstlerischen Praktiken als neu, anders. Bernhard Waldenfels bezeichnet das beispielsweise als „Verformung“ im Sinne seiner Verfremdungsfiguren (vgl. Waldenfels, 2012, 2019). Mit Käte Meyer-Drawe ließe sich von Prozessen des Umlernens sprechen, die in einer ähnlichen Logik die Veränderung individueller Dispositionen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns beschreiben (vgl. Meyer-Drawe 2010, 2008).
In den zuvor skizzierten produktionsästhetischen, bildungstheoretischen und kunstpädagogischen Perspektiven wollen wir unter anderem folgenden Fragen nachgehen:
- Wie verändern, reorganisieren sich künstlerische Praktiken und Strategien während ihres Vollzugs unter postdigitalen Bedingungen?
- Wie werden in diesen Veränderungen verschiedene Zugänge in den künstlerischen Prozessen entworfen?
- Welchen Einfluß haben dabei die bislang habitualisierten künstlerischen Praktiken und die mit ihnen einhergehenden Erwartungen? Und welche Rolle spielen die Dinge, Techniken und Technologien, eben nicht-menschliche Akteure, für künstlerische Praktiken und ihre Reorganisation?
- Besonders interessiert uns die Frage danach, wie und woran sich die Reorganisation der künstlerischen Praktiken und Strategien sichtbar macht, und wie sie sich empirisch untersuchen lässt.
- Inwiefern ist Reorganisation, die auf kleine Verschiebungen von Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen hinweist, zeitlich und räumlich begrenzt?
- Fragen nach künstlerischen Praktiken postdigitaler Verflechtungen und ihrer Reorganisationen zwischen Aisthesis, Kunst und Medien sind für uns insbesondere auch aus bildungstheoretischer Perspektive von großem Interesse: Lässt sich die Reorganisation als Bildung verstehen, bzw. lässt sich Ästhetische Bildung als Reorganisation im Sinne Noës reformulieren?
- Lässt sich das performative Verständnis von Reorganisationen, die jenseits der Sprache in leiblichen Gesten und Handlungen und in der Wahrnehmung von Subjekten wirksam sind, als Erweiterung oder gar Neuperspektivierung der transformatorischen Bildungstheorie (Koller 2012) verstehen?
Der Workshop richtet sich an Wissenschaftler:innen, insbesondere (Post-)Doktorand:innen aus erziehungswissenschaftlichen, philosophischen sowie kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Im Anschluss an den Workshop „Ästhetische und künstlerische Praktiken als Reorganisation von Wahrnehmungsweisen“, der 2023 an der Universität zu Köln stattfand und primär rezeptionsästhetische Fragestellungen thematisierte, gibt der Workshop „Künstlerische Praktiken postdigitaler Verflechtungen“ an der Universität Osnabrück die Gelegenheit produktionsästhetische, künstlerische Praktiken der Reorganisation von Wahrnehmung und Wissen zu erörtern und zu diskutieren. Es können in diesem Rahmen sowohl empirische Forschungsprojekte als auch theoretische Überlegungen vorgestellt werden, möglich sind auch künstlerische oder experimentelle Zugänge, die zunächst innerhalb des Workshops im Sinne der Thematik erarbeitet werden.
Die Workshopergebnisse werden in einem Sammelband veröffentlicht.
Einreichung
Wir planen mit Beiträgen von maximal 30 Minuten und freuen uns über Einreichungen von Abstracts (max. 350 Wörter), inklusive einer Kurz-Bio in einer PDF bis zum 30. März 2024 an fatma.kargin@fhnw.ch, kerstin.hallmann@uni-osnabrueck.de und mzahn@uni-koeln.de Die Abstracts können sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache eingereicht werden. Bei Planung eines künstlerischen Beitrags können auch ergänzend zum Text, Bilder, Videos, oder andere Arbeitsproben in das Abstract integriert werden.
Organisation
Prof. Dr. Kerstin Hallmann (Kunstpädagogik und Kunstvermittlung, Universität Osnabrück)
Fatma Kargin (Kunstpädagogik, HGK Basel, GCSC – JLU Gießen)
Prof. Dr. Manuel Zahn (Ästhetische Bildung, Universität zu Köln)
Bildcredit
Filmstill aus 360 Grad Vide: Xtract, Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten
Literatur
Audehm, K. (2017). Habitus. 2017. In: Anja Kraus, Jürgen Budde, Maud Hietzge, Christoph Wulf (Hg.) Handbuch Schweigendes Wissen, Weinheim: Beltz Juventa, S.167-178.
Barad, K. (2015). Verschränkungen. Leipzig: Merve.
Barad, K. (2012). Agentieller Realismus. Berlin: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (1979). Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Cramer, F. (2014). „What Is Post-Digital”? Aarhus: APRJA. URL: www.aprja.net/what-is-post-digital/
Koller, H.-C. (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.
Meyer-Drawe, K. (2010). Zur Erfahrung des Lernens. Eine phänomenologische Skizze. In: Santalka Filosophija, 18 (2010), Heft 3, S. 6-16. (Wiederveröffentlicht in: Shchyttsova, Tatiana (Hg.): In statu nascendi. Geborensein und intergenerative Dimensionen des menschlichen Miteinanderseins. Nordhausen 2012, S. 187-204).
Meyer-Drawe, K. (2008). Diskurse des Lernens. München: Wilhelm Fink.
Merleau-Ponty, M. (1974). Phänomenologie der Wahrnehmung, 6. Aufl. Berlin, Walter De Grutyer.
Noë, A. (2023). Entanglement. Princeton University Press.
Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp.
Waldenfels, B. (2019). Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Waldenfels, B. (2018). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Waldenfels, B. (2013). Ordnungen im Zwielicht, 2. Aufl. München: Wilhelm Fink.
Waldenfels, B. (2012). Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung. Berlin: Suhrkamp.